Deutschlands erste Partei mit einer Vielfaltsquote tritt zur Bundestagswahl an – wir haben sie zum Interview getroffen

Bei "Vielfalt in Zahlen - wie man Diskriminierung misst" sprechen wir über alles rund ums Thema ADGD – "Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten" - die Kernarbeit von "Vielfalt entscheidet - Data for Equity". Jeden Monat gibt es eine neue Folge.

In der ersten Folge interviewt unsere Moderatorin Thao Tran Dr. Lina Vollmer (Projektleitung von "Vielfalt entscheidet") und Juan Vivanco (wissenschaftlicher Mitarbeiter bei "Vielfalt entscheidet"). Es geht darum, wie Daten beim Abbau von Diskriminierung und Rassismus helfen können. Folgende Fragen werden beantwortet: Was und wofür sind ADGD, Wie tragen ADGD zum Abbau von Diskriminierung bei und wie wird Diskriminierung gemessen?

(c) Andi Weiland

Über 100.000 Menschen haben eine Petition unterstützt und damit den Startschuss für die Parteigründung gegeben. Seit April dieses Jahres ist „Demokratie in Bewegung“ (DiB) die erste Partei in Deutschland mit einer Vielfaltsquote. Im Gespräch erklären die DiB-Vorstandsmitglieder Anne Isakowitsch (31) und Mohammed Sharityar (35) den Sinn der Vielfaltsquote.

 

In eurem Werbeclip sagt ihr, dass ihr die Demokratie wiederbeleben wollt. Ist die Demokratie eurer Meinung nach tot?

Anne Isakowitsch: Tot ist vielleicht falsch. Richtig ist aber, dass ganz viele Leute kein politisches Zuhause mehr haben. Ca. 30 % der Leute wählen gar nicht mehr. Viele wählen nur mit Bauchschmerzen, weil sie sich von den Parteien nicht mehr vertreten fühlen. Das zeigt sich auch daran, dass sich nur zwei Prozent der Deutschen in Parteien engagieren. Unsere Idee mit der Wiederbelebung ist, dass wir Tools der Mitbestimmung bieten, die zeitgemäß sind.

 

Wie muss man sich das vorstellen?

Anne Isakowitsch: Jeder, der in Deutschland lebt, kann bei uns online oder in Real-Life mitmachen, Initiativen einbringen, abstimmen – und das nicht nur alle vier Jahre, sondern jeden Tag. Wir möchten neben dem Internet auch das Telefon als Kommunikationsmittel stärker nutzen, um auch Zielgruppen zu erreichen, die nicht internetaffin sind. Wir sind zwar eine Partei, nennen uns aber Bewegung, weil der Bewegungsgedanke, die kontinuierliche Erneuerung und die kontinuierliche Diskussion, etwas ist, das uns besonders macht. Um dabei mitzumachen, muss man gar nicht Parteimitglied sein. Als Partei wollen wir behutsam wachsen und die Fehler der Piraten nicht wiederholen.

 

Ok, ihr baut Barrieren ab und habt niedrigschwellige Beteiligungsmöglichkeiten geschaffen. Aber wofür steht ihr inhaltlich?

Mohammed Sharityar: Wir stehen für unsere Werte. Das sind Demokratie, Transparenz, Weltoffenheit und Nachhaltigkeit. Aber es gibt auch weitere Themen. Ich denke, dass zum Beispiel das Thema Innovation nicht der FDP gehört, soziale Gerechtigkeit nicht der SPD und erneuerbare Energien nicht den Grünen. Das alles sind wichtige Themen, mit denen wir uns auch beschäftigen und wo wir uns auch auskennen. Deswegen wollen wir diese Themen auch aufgreifen. Und wir stehen sicher für Vielfalt. Das zeigen wir auch in unserer Partei. Wir wollen Menschen aus allen Bereichen dazu holen, weil es wichtig ist für unsere Gesellschaft, dass sie sich in der Politik wirklich widerspiegelt.

 

Vielfalt ist also einer eurer Grundpfeiler. Was bedeutet das konkret?

Anne Isakowitsch: Wir sind die erste deutsche Partei, die sich eine Vielfaltsquote gegeben hat. Die Quote liegt bei 25 %. Die Idee ist, dass bei uns Leute vertreten sind, die die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln. Bisher sind diese Menschen nicht repräsentativ im Bundestag vertreten. Im Moment sitzen da ca. 65 % weiße, alte Männer. Unsere Gesellschaft ist aber anders aufgestellt. Sie ist vielfältig und diese Vielfalt findet sich in der Politik nicht wieder. Deswegen haben wir die Vielfaltsquote eingeführt. Sie greift bei allen Strukturen, die wir haben. Also beim Bundesvorstand, bei der Geschäftsstelle, bei Abgeordnetenlisten und so weiter. Wir sind die Ersten, die die Quote so verankert haben. Das Thema ist wichtig und es ist an der Zeit, es wirklich ernst zu nehmen.

Mohammed Sharityar: Ich selbst komme zum Beispiel aus einem nichtakademischen Elternhaus, bin selber nach Deutschland geflüchtet und hier groß geworden. Ich war der Erste aus meiner Familie an der Universität. Bei mir im Studium waren viele Leute aus Ärzte- und Anwaltsfamilien. Im Studium habe ich gesehen, dass das eine geschlossene Welt für sich ist. Und in der Politik sehe ich es auch. Ich war politisch interessiert, habe aber keine Partei gefunden, bei der ich mich zugehörig gefühlt habe. Und als ich dann gelesen habe, Demokratie in Bewegung steht für Vielfalt und Weltoffenheit, hat macht das angesprochen.

Diese Begriffe sind in unserer heutigen Zeit ganz besonders wichtig und man muss sie in der Politik vorleben. In anderen Parteien wird einfach zu wenig gemacht, um andere Menschen mit aufzunehmen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich zu beteiligen. In der Politik gibt es ganz wenige muslimische Menschen oder Behinderte oder Schwarze. Die sind in der Politik zu wenig vertreten. Und wir wollen das ändern und möchten, dass sich genau diese Menschen bei uns mit ihren Ideen einbringen. Das ist wichtig, weil sie ganz andere Erfahrungen und auch Lösungsansätze haben. Und diese Menschen mit ihrem Wissen werden oft ausgeschlossen. Wir wollen das mit der Vielfaltsquote ändern.

 

Wo fängt bei euch Vielfalt an und wo hört es auf? Wer fällt unter euren Vielfaltsbegriff?

Anne Isakowitsch: Wir haben den Begriff recht eng definiert. Unter unseren Vielfaltsbegriff fallen Menschen, die diskriminiert werden aufgrund von ihrer Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung, Behinderung, Herkunft oder Hautfarbe.

 

Ihr habt ja auch eine Frauenquote, die liegt bei 50 %. Das ist daraus abgeleitet, dass alle wissen mehr oder weniger die Hälfte der Bevölkerung Frauen sind. Aber wie kommt ihr auf die 25 % Vielfaltsquote?

Anne Isakowitsch: Erst einmal haben wir uns die Zahlen zum Migrationshintergrund angeschaut. Obwohl das für uns eigentlich nicht die relevante Kategorie ist. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund liegt bei ca. 21 % der gesamten Bevölkerung. In dieser Zahl fehlen aber zum Beispiel unter anderem Schwarze, arabisch- oder türkischstämmige Menschen, die zwar als „fremd“ wahrgenommen werden, aber statistisch gesehen gar keinen Migrationshintergrund mehr haben, weil der nur bis zur zweiten Generation geht. Ungefähr 10 % der Menschen in Deutschland haben eine Behinderung. 5 % bis 7 % der Bevölkerung gehören zur LGBTQI- Community.

Als wir um die Quote gekämpft haben, haben wir auch überlegt, vier Quoten einzuführen für die unterschiedlichen Kategorien. Sonst könnte ja der Fall eintreten, dass man zum Beispiel einen Landesverband mit vier schwulen Männern an der Spitze hat, dann hätte man aber trotzdem noch keine Vielfalt erreicht. Damals hat sich eine Gruppe von Leuten zusammengesetzt, die selber von Diskriminierung betroffen sind, und sich erst einmal für eine gemeinsame Quote entschieden. Es ist realistischer diese Quote zu erfüllen, die ja auch relativ hoch ist mit 25 %.

 

Wie setzt ihr die Quote technisch um? Angenommen es gibt eine Wahl zu einem bestimmten Amt in der Partei und es gibt drei Plätze. Da würdet ihr dann sagen, dass sich für einen der Plätze nur Leute bewerben können, die die Quote erfüllen würden?

Anne Isakowitsch: Ja, in etwa. Hier ist zu unterscheiden zwischen einem der wichtigsten Mandate: die Listenplätze, über die die Menschen in den Bundestag gewählt werden. Während die Satzung grundsätzlich vorschreibt, dass alle Vorstände, Gremien und Delegierte mit je einem Viertel Vielfalt zu besetzen sind, gibt es eine ganz konkrete Regelung für die Listenplätze: Beim 1. Platz und jedem ungeraden Platz können sich nur Frauen bewerben. Der 2. Platz ist für alle offen und für Platz 3 können sich nur Leute bewerben, die unter die Vielfaltsquote fallen. Wenn durch die Besetzung von Platz 1 oder 2 Vielfalt schon gegeben ist, dann würde der dritte Platz nur Frauen offenstehen.

Auch für den Bundesvorstand, der ja sehr präsent ist, gelten noch mal ganz konkrete Regeln. Da wir hier 7 Personen haben, ist es nicht möglich, die Quoten genau zu erfüllen. Daher sagt der Vielfaltsförderungsabsatz der Satzung, dass in diesem Fall mindestens zwei Plätze Vielfalt vorbehalten sind. Um das zu erreichen, wird zunächst ganz normal gewählt und bei der Auszählung sehen wir dann, ob die Vielfalts-Quote erfüllt ist; wenn nicht, rücken Personen mit Diskriminierungserfahrung, die die meisten Stimmen bekommen haben, nach. Und wenn die Quote erfüllt ist, heißt das aber nicht, dass sich von Diskriminierung betroffene Menschen nicht mehr bewerben können. Die Quoten für Vielfalt und Frauen gelten im Übrigen auch für alle bezahlten Stellen, die die Partei geschaffen hat und schaffen wird.

 

Wie stelle ich mir das konkret vor? Woher wisst ihr, wer welche Kategorie erfüllt. Wird es ein Formular geben, wo man das bei der Wahl vorher ankreuzen kann?

Anne Isakowitsch: Wenn du dich zur Wahl stellst, dann musst du entscheiden, ob du dich für die Vielfaltsquote bewirbst, somit gibst du das dann auch an. Wir haben beispielsweise einen gehörlosen Kandidaten, der hat sich dazu entschieden nicht für die Vielfaltsquote zu kandidieren. Das geht auch.

 

Welche Rolle spielt hierbei der Migrationshintergrund? Könnte ein weißer Mann, der in Deutschland lebt und bei dem ein Elternteil aus Österreich kommt, sich wegen seinem Migrationshintergrund auch über die Vielfaltsquote bewerben?

Anne Isakowitsch: Wenn man aus Österreich oder Schweden kommt und keine anderen Bezüge hat, wird man nicht rassistisch diskriminiert. Wir versuchen die Leute dafür zu sensibilisieren, dass es hier um Diskriminierungserfahrungen aufgrund von Rassismus geht. Daher haben wird den Migrationshintergrund auch nicht als Kategorie aufgenommen.

 

Warum benutzt ihr den Begriff Herkunft und nicht rassistische Diskriminierung, wenn ihr eigentlich das meint?

Anne Isakowitsch: Wir haben den Begriff Herkunft gewählt, weil der ein bisschen bekannter ist und die Leute sich darunter mehr vorstellen können. Aber es gab die Diskussion um den richtigen Begriff. In unserem Verhaltenskodex, den alle am Anfang unterzeichnen müssen, bevor sie reinkommen und auf dem Marktplatz mitmachen, ist der Rassismusbegriff enthalten.

 

Marktplatz?

Anne Isakowitsch: Ja, das ist unser Online-Treffpunkt. Eine Art Plattform, auf der alle Interessierten – auch ohne Mitglied der Partei zu sein, Programmvorschläge machen können.

 

Ihr sprecht unter anderem von Ausschlüssen, Benachteiligung und rassistischer Diskriminierung. Woher wisst ihr überhaupt, dass rassistische Diskriminierung existiert und wer davon betroffen ist?

Anne Isakowitsch: Es ist ein großes Problem in Deutschland, dass es keine statistischen Erhebungen über PoCs, über schwarze Menschen und über Diskriminierung dieser Art gibt. Deswegen wäre eine unserer Initiativen die Umsetzung der besseren Datenerhebung. Damit man erkennt: Wie sieht es eigentlich auf dem Arbeitsmarkt aus, wie sieht es auf dem Wohnungsmarkt aus, wie sieht es im Bereich Bildung aus. Herrscht da Diskriminierung, wen trifft sie? Das ist wichtig, weil man Probleme nicht wirklich angehen kann, wenn man gar nicht weiß, wie schlimm sie eigentlich sind.

Das ist eine Initiative, die wir gerade ausarbeiten und die auch auf dem Marktplatz zu sehen ist. Es gibt keinen Zensus oder so etwas aber es gibt schon wissenschaftliche Studien und alle, die sich mit solchen Themen befassen, wissen, dass es Rassismus gibt – auch in Strukturen -, zum Beispiel bei der Polizei in Form des Racial Profiling.

Mohammed Sharityar: Uns geht es darum, Leute an Bord zu haben, die diese Erfahrung selber mitbringen und die das auch selber betrifft. Und das ist auch noch einmal etwas anders, als diese Diskriminierung wissenschaftlich zu belegen. Ich bin selbst ein relativ selbstbewusster Typ. Ich habe relativ viel Glück gehabt und bin jetzt Arzt, trotzdem weiß ich, dass es Diskriminierung gibt. Das ist die Erfahrung, die ich persönlich über die Jahre gesammelt habe. Das fängt schon in der Schule an und bei den Lehrern an. Ich habe den Weg über Hauptschule, Realschule, Abitur gemacht. Wenn man Hauptschüler ist, nicht aus einem deutschen Haushalt kommt, dann ist die Haltung: ‚Mach eine Ausbildung und dann ist`s gut‘.

Es geht dann aber auch noch in vielen anderen Bereichen weiter. Uns ist wichtig, dass wir Wahlprogramme und Initiativen entwickeln, wo diese Erfahrungen mit einfließen. Vielleicht ist das auch noch viel wichtiger als Statistiken, dass wir uns mit unseren Erfahrungen einbringen und andere Leute auch dazu motivieren. Schauen Sie sich einmal an, was der Islam aktuell in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt durchmachen muss. Da geht es uns darum, Leuten, die das betrifft, zu sagen, hier könnt ihr euch einbringen mit eurem Glauben und eurem Wissen. Das Gleiche gilt für Menschen mit Behinderung, Menschen aus der LGBTQI-Community und Schwarze Menschen. Das ist mir persönlich ganz wichtig.

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